Ein grosser Tag?

Eine Polemik aus den Erfahrungen der Vergangenheit in die Zukunft 

Anfangs dieser Woche hatte ein junger Mann sein „coming out“. Dabei erklärte er, dass er „es“ eigentlich schon seit seinem 16. Lebensjahr „gewusst“ habe.

Dass er für sein Identitätsbewusstsein noch einige Jahre zugewartet hat, während seine heterosexuellen Kollegen längst „erste Erfahrungen“ gesammelt haben, ist für unsere Gesellschaft „einfach nur normal“ halt. Schwule brauchen etwas länger?

Da hatte ich 1970 schon ungeheures Glück, weil das Schutzalter damals bei 20 Jahren war und es – wie bei gegenwärtig gültigem Gesetz von 1992 – keine Toleranzgrenze von drei Jahren um das Schutzalter 16 herum gab. Ich war gerade 20 geworden.

Doch während die heterosexuellen Jungs schon früher als mit 16 Jahren „herumprobieren“, gibt es seit einigen Jahren auch da strafrechtliche Eingriffe ins Sexualleben Jugendlicher. Hinterher wird das als „Missbrauch“ definiert und auch sanktioniert. Dabei spielt die Presse – vor allem vor irgendeiner Anklageerhebung – eine selbstbewusste vor-verurteilende „öffentlich-rechtliche“ Rolle!

Es wird wieder mehr Wert darauf gelegt, dass Jugendliche „warten“ sollten, statt ihre sexuelle Selbstverantwortung zu üben. Die einzige Politikerin seit Jahrzehnten, die nicht vom Schutzalter, sondern von der sexuellen Selbstbestimmung öffentlich (in einem Interview) sprach, war Frau Bundesrätin Elisabeth Kopp (FDP) gewesen! Das war Anfang der 80er Jahre.

Die „vorberatende Expertenkommission“ hatte damals 14 Jahre, und der Gesamtbundesrat in seiner Stellungnahme 15 Jahre vorgeschlagen. Die vielen Vernehmlassungsantworten, die in Bern bis 1983 eingegangen waren, sind übrigens in einer Bundesdrucksache* gesammelt worden: Die Antworten von Fachleuten, Juristen, Staatsanwaltschaften und Richtern liegen im Vergleich zur heutigen „politischen Korrektheit“ völlig daneben. Und doch waren alle diese Leute, inklusive Bundesrat nie irgendwie der „Pädophilie“ verdächtigt worden. Und es wäre Scheinheiligkeit im Quadrat, dies heute rückwirkend noch zu tun…

Doch in den letzten Jahren sind „Verjährungsfristen“ gedehnt, neue Straftatbestände im Bereich der Pornografie und der „sexuellen Handlungen mit Kindern“ („Wegschliessen für immer!“) und neue strafprozessuale Handlungen auch für Beteiligte unter 16 Jahren eingeführt worden. Dabei sollen alle immer mehr geschützt werden. Doch was hat das Gesetz zum Schutz der Frauen ihnen je wirklich gebracht? Meiner Kenntnis nach haben die Pille, die neuen Arbeitsmöglichkeiten, Weiterbildung und staatliche Unterstützungen, wie Alimentenbevorschussung, für Frauen mehr gebracht als alle gut meinenden Gesetze.

Kürzlich hat Bundesrätin Simonetta Sommaruga (SP) neue Gesetzesänderungen angekündigt (Lanzarote-Konvention, ER), mit denen Jugendliche vor sexueller Ausbeutung durch Prostitution von 16-18 Jahren geschützt werden sollen. Während sexuelle Kontakte unter 16 Jahren allgemein bekannt strafbar sind, ergibt sich eine Re-Kriminalisierung mit hohem Erpressungspotenzial, wie das Schwule von 1942 bis Ende der 80er Jahre erlebt haben. So zweideutig wie Prostitution letztlich definiert werden kann, so zweideutig werden auch arbeitsrechtliche Vorschriften in Familienbetrieben mit Kindern und Jugendlichen interpretiert. Das gilt nicht nur für Bauernbetriebe, sondern auch für Franchising-Läden! Aber da gibt’s halt keinen Sex, nur Arbeit.

Der weitere Vorschlag von Simonetta Sommaruga betrifft die sexuellen Darstellungen. Sie sollen neu bis 18 Jahre als Kinderpornografie gelten. Zum Schutz vor Ausbeutung. Ganz ignoriert werden die Selbst-Darstellungen Jugendlicher mit Webcam und in Internetforen. In einer Zeit, in der fast jeder „Kack“ abgebildet und mitgeteilt werden muss, ist das eine sehr fundamentalistische Sicht der Dinge! Von Selbstbestimmung kann keine Rede sein. Wie weit die „Jugendliteratur“ und Tagebücher – für bis zu 18jährige – der Pornozensur zum Opfer fallen wird, bleibe dahingestellt Ganz zu schweigen von der Ausweitung der Zensur im Internet. Ich mag mich an ein Jugendbuch erinnern, woraus ich in meinem Abend-Blatt als Werbung zitiert hatte. Die Staatsanwaltschaft (in meiner damaligen Adressliste!) meldete sich telefonisch, woher ich den Text hätte. Aus einem regulären Taschenbuch. (Die Neuauflage erschien dann bei Gmünder…)

Kommen wir zurück auf den grossen Tag! Ich habe bereits geschildert, dass Jugendliche mit den homosexuellen Erfahrungen und Identitäten um Jahre verspätet daran sind. Was keineN kümmert. Und nun soll die Darstellung und Selbstdarstellung der lustvollen Sexualität von Jugendlichen von 16-18 Jahren so schlimm werden wie die Kinderpornografie. Das sind doch schöne Aussichten auf ein schwules Leben, wenn Sexualität – eingeschränkt durch das Prostitutionsverbot – zwar gelebt werden darf (wohl eher geduldet!), aber deren Abbildung schwer kriminalisiert wird. Wir sind bald wieder bei einem Strafrecht der katholischen Kirche, die „keinen Sex vor der Ehe“ propagiert. Die Homosexualität sitzt nun in der heterosexuellen Falle zum Schutz vor allem der Mädchen und wird „gleichbehandelt“. Das wollten wir doch – oder?

Aber da sitzt noch so ein Pferdefuss in der ganzen Vorlage. Getreu dem „Vorbild“ in Schweden, sollen zwar die Männer, die Prostituierte aufsuchen (also hier erstmal begrenzt auf Jugendliche von 16-18 Jahren) sich strafbar machen. Aber die Frauen, die – aus welchen Gründen auch immer – die Prostitution anbieten, sollen straflos bleiben. Dazu kann ich nur die Verfassung zitieren, die jeden Bürger/Bürgerin vor dem Gesetz gleich stellen soll!

Wer bei der homosexuellen Prostitution bestraft werden soll, wird natürlich nicht erwähnt. Das ist bei Frauen kein Thema. Auch nicht, wenn mal ab und an eine vornehme Dame, egal welchen Zivilstands, sich eine andere Dame gegen Bares gönnt! Und so was wird es ja wohl nicht geben…

Da ist es gerade praktisch, dass schwule Jungs erst mit 18 Jahren oder noch später ihr coming out haben. Da sparen sie sich viele Unannehmlichkeiten mit den Behörden, Gerichten und der Polizei! Und die Schwulenbewegung muss „umdenken“ und die ganzen safersex Kampagnen und Informationen neu ausrichten!?

Das wollten wir doch – oder?

Peter Thommen_62, Buchhändler, Sozialarbeiter, Schwulenaktivist

P.S. Siehe auch die Links hier im Blog unter „Jugendprostitution“!

Dazu passend ein Kurzfilm „The Closet“ – eine Kindheitserinnerung  (gefunden bei typisch-schwul.com)

* Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens – Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit und gegen die Familie, 1983, 752 S. A 20416 / A 20796

Die ganzen privaten Stellungnahmen ans BAJ, vom „Weissen Kreuz“ bis zu den Schwulenorganisationen liegen mir in meinem Archiv als Kopien aus dem Justizdepartement vor!

 

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Nachtrag/Leserreaktion: Es gilt ein erstes Missverständnis zu beheben, das in meiner Polemik aufscheinen kann: Natürlich kann ein Junge in jedem Alter sein coming out machen. Nur steht die Frage an, ob es – angesichts der vorgesehenen Kriminalisierung von Bildern und Texten, die Sex und Kontakte von 16-18 zur Darstellung bringen oder thematisieren, überhaupt dann noch Sinn macht, diese Altersgruppe zu informieren, oder ihr Literatur zur Verfügung zu halten! (Dazu muss man nicht Buchhändler sein!)

Anmerkungen

1. Ich erwähnte oben das Buch von Todd Brown. Das knallrosa Tagebuch, welches im „Sexverlag“ Gmünder neu aufgelegt wurde! (Ursprünglich bei DromerKnaur?)

2. Ich habe an anderem Ort das Buch von Will Davis: Meine Sicht der Dinge, besprochen. Dieses ist auf Deutsch nicht ohne Grund bei Gmünder erschienen. Die Englisch-Ausgabe erschien jedoch nicht in einem „Sexverlag“!

3. Ich erinnere an die Broschüre „selbstverständlich“ (Pink Cross, 2005), in welchem Szoltan eine Sexszene auf einem Bahnhofsklo beschreibt (S.15), deretwegen PolitikerInnen aufgeschreckt wurden! Wie ich mich erinnere, durfte sie nicht mehr an Schulen (PDF) aufgelegt werden! Allerdings erhielt sie dann vom Bundesrat ein OK. (Schulen sind aber Kantonssache!)

Bundesrat rehabilitiert Coming-out Broschüre (31.8.2005). Professionell gemacht, Inhalt und Aufmachung für die Zielgruppe geeignet. Dies ist die offizielle Beurteilung des Bundesrats zur Coming-out-Broschüre «selbstverständlich» für schwule junge Männer, die PINK CROSS in Zusammenarbeit mit der AHS herausgegeben hat.

«selbstverständlich», die Broschüre für junge schwule Männer vor- und während des Coming-outs, war im Frühling unter Beschuss geraten, weil vornehmlich evangelikale Politiker sie als pornographisches Machwerk zur Verführung Jugendlicher darstellten. In der bundesrätlichen Antwort auf zwei parlamentarische Anfragen erhalten die schweizerische Schwulenorganisation PINK CROSS und die Aids-Hilfe Schweiz nun die Bestätigung, dass die Broschüre zweckmässig ist und Homosexualität ausgewogen darstellt. 

Das Thema „Kinder- und Jugendliteratur für homosexuelle Jugendliche“ wird nächstens von mir in einem Essay aufgelegt werden. 

Über admin

*1950, Buchhändler, Schwulenaktivist, ARCADOS Archiv für schwule Studien
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