„Von der Notwendigkeit einer klitzekleinen Zeitung“

Vor genau 20 Jahren erschien in Basel das letzte schwule Wochenblatt. Diese kleinen Blätter vom ARCADOS Buchladen haben über Jahrzehnte Menschen miteinander verbunden. Anfangs mit Kontaktanzeigen (!), dann aber mehr und mehr über Szeneereignisse, mit Infos und letztlich auch Klatsch. Denn diesen wollten sich viele Leser immer zu Gemüte führen – und ob sie auch darin erwähnt würden. Was der -minu für die BaZ war der Thommen für Schwule.

1987 erschien die 50. Ausgabe des „Abendblattes“. Damals schon 14-täglich (die andern monatlich) und „für Basel – St.Louis-Mulhouse und Freiburg i.Br.“ Dazu erhielt ich eine anonyme Zuschrift: small is beautifull – auch wenn damit keine Weltanschauung begründet wird, ist „die Existenz des Abendblattes“ doch damit zu rechtfertigen.

Schwule Lebensweise, vor allem dann, wenn sie sich nicht in der Szene abspielt, ist auf Information und Kommunikation angewiesen. Der versteckte, zurückhaltende, der einnzelgängerische und vielleicht auch der ältere Schwule müssen wissen, wo was ist, wo sich was wie verändert hat und – traurig aber wahr – wo Enttäuschungen zu erwarten sind oder gar Gefahren drohen.

Gerade deshalb haben viele Bewohner, vorwiegend männliche natürlich, unserer Stadt und der Region Peter Thommen zu danken, dass er keine Mühe scheut, in regelmässiger Folge sein Abendblatt herauszubringen. Dieser Dank ist auch dann echt und ehrlich, wenn man nicht mit allem, was da zu lesen ist, einverstanden ist.

Alles Gute, viel Fantasie und grossen Wagemut für die nächsten 50 Nummern! Basilio“

„Lieber Peter, zur 50. Ausgabe des Abendblattes wollen wir Dir herzlich gratulieren. In den drei Jahren regelmässigem Erscheinen ist Dein Blatt zu einer Institution im schwulen Basel geworden, die niemand mehr missen möchte.

Als Gruppe, die sich mit der Geschichte der Schwulen befasst, wissen wir auch, wie wichtig schriftliche Gegenwartszeugnisse sind, damit die Ereignisse und Ideen von heute nicht schon in wenigen Jahren für immer verloren sind…

In diesem Sinne wünschen wir Dir alles Gute und Deinem Abendblatt noch viele Jahre! Verein Ausstellungsprojekt Geschichte des Schwulen Basel“ (Abendblatt 1. März 1987)

(Dieser Verein schuf dann die grosse Ausstellung „Männergeschichten“ in der Kaserne)

Abend-Blatt hiess es, weil es immer am Wochenende Freitagabend verteilt worden ist. Ich hatte den Namen von einer „Läster-Schwester“ einfach übernommen…

36 Jahre später erschien dann die letzte – Thommens Senf und Pink Tube in gedruckter Ausgabe. Diese Wochenblätter haben immer versucht, den Puls der Szene zu fühlen und thematisch aktuell zu sein. Keine Zensur von Wörtern oder Themen! Schreiben wie uns der Schnabel gewachsen ist. (Das brachte mich auch oft in Konflikt mit gewissen Adressen, die das bekommen und lesen sollten. 😉

Die schwule Familie war 2003 schon lange auseinandergebrochen. „Leider ist für viele Schwule die Szene eine richtige Bedürfnisanstalt. Dringend wird sie gebraucht, schnell wieder verlassen – mit der Vorstellung, dass sie dann schon wieder benutzbar ist, wenn man sie halt doch wieder braucht.“

In elf Jahren habe ich 10 Jahrgänge Wochenblätter publiziert. Das ist ein „Sammelbuch“ von der Intimität einer Szene bis zu ihrer Bedeutungslosigkeit und totalen Anonymität. Trotz Internet braucht es auch Printmedien – vor allem solche, die Meinungen, Essays, Pamphlete (Streitschriften) und Gegeninformationen verbreiten!

„Schon seit AIDS war klar, dass es zum Ficken auch den Kopf braucht. Für Beziehungen und künftige Gefahren braucht es weiterhin Medien, wie in Schule und Beruf…“

„Wann wird wieder klar, dass schwules Leben – oder Leben unter Männern – kein Schicksal ist, sondern auch harte Kopfarbeit? Wann wird klar, dass der wöchentliche Porno zwar erleichtert, aber zum Zusammenleben nichts beiträgt – höchstens zum Alleinleben? Wann wird klar, dass die Schwulenehe ein ‚Versprechen auf Zeit‘ ist und keine Lebensversicherung?

Wann verschwinden ältere Männer nicht mehr in der Versenkung, weil sie sich durch die Normen einfach ausgrenzen lassen? Wann kann endlich eine kontinuierliche Weiterbildung für Schwule etabliert werden?

Schwule jagen sich mit 30 eben keine Kugel in den Kopf und über 50 gehen sie auch nicht auf eine Kreuzfahrt aufs Meer. Einst fingen sie an als Tunten und Schwestern, dann warfen sie die Röcke weg und zogen auf die Strasse. Dann war der Anzug und der Geschäftskoffer wichtig und später wurde der Schrank mit Leder und Toys nach und nach gefüllt. Die klassische „Schwulenlebenskarriere“. So mancher ist in einen Keller gestiegen, um die verblichene Schönheit mit Leder und SM aufzupolieren…

Bei den Fetischen fällt auf, dass ganz bestimmte Hierarchien darin ausgelebt werden – also ein Nachspielen heterosexueller Normen…

Auch die inneren Werte sind von Heteros abgekupfert: Treue, Doppelmoral und übertriebene Anforderungen an sich selbst und die Partner, Fassade nach aussen, Verstecken nach innen. Diese ganzen pirouettenhaften Verrenkungen in den Sexualbeziehungen habe ich schon mehrmals formuliert…

Es ist meistens nicht drin was drauf steht. Doch wo lernt man die Macken anderer verstehen? Wo lernen wir, beim Anblick eines „Gottes“ unser Selbstbild nicht aus den Augen zu verlieren? Woran erkennen wir, ob einer gefickt werden muss, oder gar das Ficken braucht? Wie verstehen wir, dass es Menschen mit stark physischen Bedürfnissen und wieder andere mit mehr psychischen Bedürfnissen gibt?

Was sind überhaupt unsere eigenen Bedürfnisse? Findet mann das wirklich nur heraus, indem mann alles rauf und runter ausprobiert? Eine ganze Akademie wäre nötig, um sich hier weiterzubilden. Aber die Schwulen spielen Schicksal und russisch Roulette. Wie früher der Adel und später das Bürgertum – die Kritiker sind einfach Klassenfeinde. Wie bringen wir unterschiedliche kulturelle und religiöse Vorstellungen in ein Verhältnis? Wie konvertiert ein heterosexuell Erzogener zu einem Schwulen? Wie kann mann sich von einer Partnerin zu einem Partner umgewöhnen? Kürzlich schrieb einer: Es scheint, dass die Männer in der Lebensmitte ihre Homosexualität entdecken. Tja, warum erst in der Lebensmitte? Wer vermag das solange zu verhindern?“ … (Peter Thommen in der letzten Ausgabe vom 24.10.2003)

P.S. Einen letzten Versuch unternahm ich mit dem „schwulen Gassenblatt“ von 2014 bis 2017 (dazu etwas im nächsten Jahr!) Seit 2014 ist mein „altes Projekt swissgay“ noch das letzte Publikationsorgan aus meinen Tasten. https://swissgay.info/?page_id=1334 (Inhaltsverzeichnis bis 2019) weitere PDFs findet Ihr auf swissgay.info (rechts oben!)

siehe auch  arcados.ch   und  mein newsletter  https://swissgay.info

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*1950, Buchhändler, Schwulenaktivist, ARCADOS Archiv für schwule Studien
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