… auf dass der Alltag einer grossen Liebe weichen möge!
Der überwiegende Teil des Lebens eines homosexuell empfindenden Mannes besteht aus WARTEN!
Schwule warten auf alles Mögliche: auf einen Spielkameraden der ihnen gefällt, auf den ersten Sex, darauf immer wieder einen Kameraden zu haben, der „eingeweiht“ ist. Auf die Strafe der Eltern, Gottes, der Mitschüler…
Wir warten auf jeden Fall auf die grosse Liebe!
Meist ist uns unbekannt, dass das Warten auf etwas Bestimmtes genau der Grund ist, warum „nichts kommt“! Du wartest im Tram darauf, wann der hübsche Bengel endlich aussteigen wird. Ob der Junge da vorne wohl ins Elle&Lui oder in den Dupf einbiegen wird. Ob der hübsche Mann in der Zeitung oder im Film vielleicht nicht doch schwul ist?
Wir Schwulen sind aufs Warten programmiert. Wir haben nie gelernt, unsere Bedürfnisse anzubringen. Wir hätten es nicht gewagt, einem Banknachbarn in die Hose zu greifen, oder einen Mann aktiv zu verführen… Weil wir Angst haben.
Als Angsthasen sind wir auf die Welt gekommen und da wir unser Schwulsein vor allem als persönliches Problem zu begreifen gelernt haben, werden wir die Angst vor den „andern“ – der Mehrheit – auch alleine nie überwinden.
Wieviel Angst braucht es noch für viele Jungen, die Schwelle einer Schwulenbar oder des Buchladens zu überschreiten. HEUTE noch!
Diese Angst muss anscheinend jedem einzelnen in der Familie und in seiner Umgebung eingeimpft worden sein. Aber auch ältere Schwule haben noch im Rentenalter Angst, man könnte sie diskriminieren, obwohl sie da doch wirklich nichts mehr zu verlieren haben?
Diese gesellschaftlich programmierte Angst verurteilt uns zum ewigen Warten. Wir warten auf einer Klappe, ob irgend einer der Männer sich sexuell interessiert zeigt. Wir warten im Park auf einen interessanten und geilen Mann. Wir warten in der Sauna auf den Sex, den wir doch so nötig haben, weil wir dauernd nur warten, statt organisieren!
Sex soll doch über einem hereinbrechen – und mit ihm die „grosse Liebe“. So etwas selbst anzubahnen, wäre doch ein Verbrechen!
Wir warten stundenlang in einer Bar, drehen regelmässig den Kopf zur Seite, wenn sich die Toilettentür oder die Eingangstür öffnet und schliesst. Wir tanzen im Club wie verrückt und warten darauf, dass der Auserwählte unter den Gästen irgendwie hängenbleibt.
Wir warten während der Arbeitszeit, bis es Abend wird und wir wieder Ausschau halten können. Wir warten, bis endlich der „Richtige“ kommt.
Die Juden warten heute noch auf den Messias. Die Christen haben einen gefunden und ganze 2000 Jahre lang ‚was schönes auf der Welt angerichtet‘. Aber auch die warten schon wieder auf dessen „Wiederkunft“. Viele Menschen warten darauf, dass „etwas passiert“. Sie vergessen, oder wollen nicht wahrhaben, dass SIE es sind, die zur Aktivität gefordert sind!
Wenn die Leute vom Isola-Club nichts gewagt hätten, wäre der Dupf* heute noch geschlossen, oder ein Hetero-Lokal. Wenn Werni und Ronny nicht im letzten Augenblick einen Tuntenball ausgerufen hätten, würde der tolle Weihnachtsabend im Keller des Hirscheneck niemals stattgefunden haben.
Und was tut das „schwule Volk“? Es zieht sich zurück und wartet auf das nächste Ereignis! Da kann es warten, bis es rosa wird…
Ich denke, wenn sich die Leute anfangen, selbst zu „verunstalten“, sich umzumodeln, sich einen Arm oder ein Bein abzuschrauben, um es gegen etwas anderes auszutauschen – sich die Klamotten verkehrt herum anzuziehen – , ihr allseitiges Suchtverhalten zu pflegen, dann sind sie nicht mehr von dieser Welt! Dann können wir sie als „tot“ abschreiben.
Ich habe zwischen den letzten Feiertagen Dutzende Menschen und Gesichter gesehen, die das ganze Jahr über nicht existent sind. Einige wollten ihre Beziehungen oder langjährigen Freunde vorzeigen, einige kamen auch nur, um schnell eine Bestandesaufnahme zu machen…
Sie warten anscheinend immer bis Ende Jahr. Allen diesen Wartenden fällt anscheinend nicht auf, dass in den verschidensten Aktivitäten eines bunten und sehr verschiedenen Völkleins von Schwulen ein gemeinsames Zeitverbringen steckt, das die wahre Gelegenheit des unsensationellen Kennenlernens birgt. Aber was ist schon eine Liebe, die leise wächst, gegen das wagnerische Donnergrollen eines grossen, schönen, dunklen Mannes, der fest entschlossen auf uns zu schreitet?!
Einige entwickeln zwar schon Aktivitäten, aber sie suchen eigentlich nur die Anerkennung im bürgerlichen Kuchen (z.B. Theater), wo man sich zwar sieht, aber ausser Kultur nichts am Hut hat. Man geht da auch mit seinem Lover hin. Und wenn das dann öfters geschieht, dann fühlt man sich anscheinend von dieser Art High Society in seiner so lange ersehnten Beziehungskiste bestätigt. Wenn man dann wieder alleine ist, was wir ja nicht hoffen wollen, dann können wir schon mal wieder in die Niederungen des Milieus abtauchen…
Vielleicht liegt im alltäglichen erkennen von Bez(iehungs)ugspersonen eine bessere Chance für deren Beurteilung, als im hochgeschwappten Gefühl sensationeller Liebe? (Und bis die da wieder von ihren rosa Wölklein herunterfallen, vergehen mindestens Wochen, wenn nicht Monate! Und damit hat sich’s dann auch meistens!)
Vielleicht liegt auch im alltäglichen und gemeinsamen Bewältigen des Lebens und seiner Probleme etwas unsensationell Angstmachendes: Die schleichende Erkenntnis, dass es eigentlich der Zeit egal ist, wie sie zerrinnt. Aber wenn Du einmal dreissig bist, dann erschaust Du die Zeitlache auf dem Boden Deines Lebens… und es ergreift Dich das Fürchten!
Peter Thommen, geschrieben im zarten Alter von 45 Jahren (Thommens Senf, 4. Jg. Nr. 1, 6. Januar 1995)
* Lokale aus den 90ern