KeineR sollte hier eine theologische Abhandlung erwarten. Aber im Rahmen von geschlechtspezifischem Verhalten unter Männern, gibt es noch viel zu entdecken. Und so wie Frauen die Welt anders sehen – und die Männer, so haben auch Schwule einen „anderen Blick“ auf die sexuell zweigeteilte Welt. Dabei geht es nicht immer nur um die gängigen Vorstellungen von „Homosexualität“, die wir in den letzten Jahrzehnten entwickeln konnten – trotz heftigem Widerstand der Mehrheit von hetero-gläubigen Frauen und Männern.
Es ist zwar allgemein bekannt, dass Frauen einen „fraulichen“ Umgang untereinander pflegen – in allen Kulturen. Wie der männliche Umgang unter Männern war und ist, muss erst hinter vielen Klischees und Geschichten hervorgeholt werden. Dabei ist zwar das sexuelle Verhältnis „überwichtig“ für die Einordnung in die hetero Sichtweise, aber für die Betrachtung von Männerbeziehungen eigentlich eher von minderem Rang. Besonders was die Penetration betrifft, die immer als die Messlatte von „richtiger Sexualität“ genommen wird.
Leider müssen wir auf ein wichtiges Element erzählerischer Technik aus vorgeschichtlicher Zeit verzichten: Wir können die geschilderten Personen und ihre Beweggründe nicht mehr befragen. Aber das konnten auch die ersten Aufschreiber talmudischer und evangelischer Geschichten schon nicht mehr, während uns deren Inhalt quasi noch immer als „Glaubenstatsachen“ serviert werden.
„Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (1), schrie Jesus, noch am Kreuz, bevor er das Bewusstsein aufgab. Dieser Satz wird in der Bibel auch noch andernorts zitiert oder verwendet.
Aber was sagt er einem Schwulen, der an die Männer glauben möchte und sich doch so verlassen unter den homophoben Heteros vorkommt? Für viele Jungs ist der Hetero das grosse „göttliche“ Vorbild. Je unmännlicher er sich vorkommt, desto grösser sein Glaube an die Heterosexualität. Für viele Jungs ist der Frauensex kein Problem, aber sie machen den Sex mit Männern zu einem. Andere Jungs wiederum blenden diesen Teil der Heterosexualität einfach aus.
Gewalt gegen Schwule ist immer auch Gewalt gegen Männer. Oft wird vergessen, dass immer wieder auch normale hetero Männer für schwul gehalten werden, was immer von den Fantasien und Zuschreibungen „normaler Täter“ abhängt und nicht von den von ihnen beschuldigten und verachteten Opfern…
Auch im Christentum ist die Gewalt ein göttliches Mittel, um die Ordnung der Geschlechter und ihrer Rollen zu garantieren. Abraham wurde von Gott „versucht“, indem er Gehorsam übte und seinen Sohn Isaak dafür opfern sollte. (1. Mose, 22) Das Opferfest hat bei den Moslems noch heute eine grosse Bedeutung und deswegen werden jährlich unzählige Schafe geschlachtet…
Interessant ist übrigens die Geschichte von Abrahams Knecht, der ihm einen Schwur „unter der Hüfte“ leisten musste. (1. Mose, 24) Das Ding das da unten hing oder stand (?) bekommt eine ungeheure Bedeutung für die beiden, denn es ging dabei um die Fortpflanzung der Ur-Familie nach dem Tod des Urvaters…
Nicht nur Frauen und Mütter tun alles für den Penis des Mannes und den Macker, der daran hängt. Und sie entwickeln meistens Gewaltfantasien, wenn es um (richtigen) Sex zwischen Männern geht. Wiederum aber ist Gewalt, die nicht „sexualisiert“ ist, für viele Feministinnen normal unter Jungs und Männern. Ich aber meine, dass Gewalt durch ehrliche Erotisierung zwischen Männern abgebaut werden könnte. Viele Männer können sich gar nicht näher als 15 Zentimeter kommen, ohne mit Gewalt zu reagieren. Der heutige Umgang von Jungs miteinander zeigt diese kumpelhafte Verklemmtheit mit Handschlag und Handdrehung, oder die polternde Schulterschlägerei anstelle ehrlicher Umarmung!
Das hat alles nichts mit der heutigen Auffassung von Homosexualität zu tun. Das alles aber verhindert die freie Entfaltung von Homophilie und auch von Sexualität zwischen Männern. Die Schwulenbewegung hat für alle Männer gekämpft und auch darum, dass jeder Mann seine Sicht, seine Erfahrung und seine Freude an anderen Männern haben kann. Sehr zum gesellschaftlich verhohlenen Unmut der Frauen!
Ich nehme die Geschichte von Gilgamesch und Enkidu als Beispiel für den freien Umgang mit einer Männerbeziehung in vorhistorischer Zeit. Vor ca. 5500 Jahren wurde der Kampf der Zivilisation mit der Natur in eine Männergeschichte gekleidet, die als Episode innerhalb eines „heterosexuellen“ Epos, auf Tontafeln überlebt hat. So sensationell war sie. Als nämlich Gilgamesch gegen Enkidu kämpfte, „erkannten“ sie einander und verliebten sich. In der Folge nahm der Vertreter der Natur, zur rechten Seite des Vertreters der Zivilisation auf dem Thron Platz. Diese Formulierung erinnert wiederum an die Rolle von Jesus, der auch „zur Rechten“ des Vaters auf einem Thron sitzen sollte – vielleicht als Preis für die Aufgabe seiner Erdverbundenheit mittels gewaltsamem Tod? (Die Erde ist übrigens weiblich)
Mich bewegt die Tatsache der „normalen Gewalt“ zwischen Männern sowohl als Schwuler, wie auch als Mann. Denn ich lasse mich nicht einfach ausgrenzen. Weder zu den Frauen, noch zu den Kindern. Gleichzeitig erfahre ich Verdächtigungen und Schuldzuweisungen als „Gewalttäter“, der ich nun wirklich nicht zwangsläufig sein muss. Und – obwohl Christus der Halbgott oder Prophet von Zöllnern und Huren gewesen ist, meine Heteros haben mich immer verlassen, sobald sie um die erotische Dimension meiner Empfindung gewusst haben. (Natürlich von einigen Freunden mit Köpfchen mal abgesehen!)
Als ich selber in der Schule die Zielscheibe männlicher Aggressionen war, die sich vor allem auf dem Schulweg zeigte, hatte mein Vater keine heterosexuellere Empfehlung als: „Du musst Dich halt wehren“ parat. Nur: Wie konnte ich mich mit anderen Jungs prügeln, wenn ich denn lieber an ihren Schwanz gegriffen hätte?
Dies wurde bei mir kürzlich erneut aktualisiert, als sich über gaynet ein alter Schulkollege aus der Jugendzeit meldete, der den Kontakt zu mir suchte. Er habe eine Familie und zwei Kinder, aber in letzter Zeit hätten sich bei ihm so Gefühle entwickelt für Männer, für die er jetzt meine Hilfe suchte. Er ist zwar in all den Wochen seither nie wirklich bei mir aufgetaucht. Aber was zum Teufel kommt er jetzt zu mir, wo ich nie etwas mit alten Männern anfangen konnte? Damals hätte ich wohl noch so gern mit einem Gleichaltrigen Sex gehabt. Aber damals war er eben homofeindlich und hetero. Ich fühlte mich damals auch schon verlassen!
Nun, mein Vater war zwar homophob, aber er gestand mir durchaus eine „Variante“ von Männlichkeit zu. Ich verlor sehr schnell das Bewusstsein (es übermannte mich), wenn ich geimpft wurde oder viel eigenes Blut sah. Er tröstete mich damit, dass es dem besten Metzger auch so gehen könne, wenn er sein eigenes Blut sehe…
Peter Thommen_62, Schwulenaktivist, Basel
1) „Eli, Eli lama asabthani?“ (u.a. Markus 15, 34)
Hier habe ich noch eine interessante Betrachtung gefunden (siehe weiter unten auf der verlinkten Seite 2.3). Sie bestätigt meine Vermutung, dass das heterosexuelle System (die Ordnung Gottes/Oberhetero) auf einem schlauen Diskriminierungssystem beruhen, das sich entlang des Penetrationsverbotes und der Penetrationspflicht (zur Fortpflanzung) etabliert hat. Frauen sind darin zur Passivität verurteilt und spielen die Rolle, zwischen den Männern Konkurrenz um sie zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Dabei sind sie über dieses – sie zwar selber diskriminierende – System indirekt an der Macht beteiligt. Woraus sich eine klare Gegensätzlichkeit zu Homosexuellen ableiten lässt, die dieses ausgeklügelte archaische Landwirtschafts-, Erb-, Macht- und Politsystem durch unerwünschte „Gefühle“ unterminieren könnten. Denn mit den Gefühlen – egal ob wahr oder vorgespielt – „politisieren“ ja bereits die Frauen – auch gegen andere Frauen! PT
Eine der ersten, die „theologisches Verständnis“ zur Situation von Homosexuellen beitrugen war Else Kähler (1917-2011), mit einer Exegese (PDF 2 MB) zweier neutestamentlicher Stellen, in Bovet, Th: Probleme der Homophilie, Huber 1965
Hallo Franz!
Ich kann leider für keinen eine Lanze bei seinen bevorzugten Jungs brechen. Entweder steht ein Junger auf Alte (was es mehr gibt als man glauben könnte!), oder eben nicht. Ich selbst konnte nie was mit älteren Männern anfangen. Und übrigens – ich habs auch nirgendwo gelernt, als ich jung war! 😉
Nun sind die Gerontophilen – wie man das mit dem Fachausdruck nennt – noch viel vereinzelter und alleine als die Alten, die von ihnen begehrt werden. Solche Jungs kommen sich noch blöder vor in unserer Gesellschaft als die übrigen Schwulen. Ausserdem wird durch die „Pädophilen-Hysterie“ die Angst vor älteren Männern ganz allgemein geschürt! Und die Heteros übersehen gerne, dass kleine Mädchen und Jungs nicht in der gleichen Situation sein müssen. Und selbstverständlich kann es für Mütter und Heteros keine Jungs geben, die ältere Männer lieben, oder sogar ficken wollen! 😉
Einer meiner Ex hat es selber mit gleichaltrigen Teenies versucht damals und musste resignieren. Genauso wie bei ihm „ohne Bart wird nix hart“ das Motto war, musste der Partner mindestens 50 Jahre alt sein, bevor er ihn interessierte. Doch das passt nicht in den allgemeinen Sexismus hinein, der heute herrscht und frauscht und die Feministinnen haben an sowas wie Sex und Liebe ohne Frauen nie gedacht…
Lieber Peter Thommen. Deine Artikel sind äusserst tiefsinnig! Ich hätte hier ein Anliegen. In der Umkehr des Ausspruches: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ – wird heute „Meine Gaysociety, warum habt Ihr uns Alte (ich bin auch einer davon – 64ig) verlassen – respektive, diskriminiert ihr uns?
Ich habe Sex – ja, ich bezahle dafür bei den Escorts (sehr gute Sache, da sauber und sicher). Ja, auch Sexworker.. Aber wie steht es mit dem „Cruising“? Du sagtest richtig, die Klappen sind tot, die Gaybars, die „Gayfriendli“ Szene?
Wie behandelt man uns da? Anlächeln und dafür eine Faust riskieren? Alles schon erlebt. Mit dreissig ist man doch heute weg vom Fenster? Ich bin kein Opa Typ, bin sehr ansehnlich, gutgebaut, zwar graue Haare.
Wäre schön, wenn du einmal wieder für uns Alte eine kleine Lanze bei den schwulen Jungs brechen würdest. Damit würdest Du mir in vielen meiner Generation ein schönes Geschenk machen. Dies umsomehr, da allgemein die Liebe überall erkaltet. Danke Peter. Gruss Franz