Die „Community“ ist dabei, in der Buchstabenliste eine Hierarchie einzuführen. Dabei war einmal gedacht, dass alle Gruppierungen gleich-bedeutend sein sollen. Ich habe kürzlich mal ironisch angemerkt, dass wir nur noch einen Buchstaben für die Heterosexuellen anhängen müssen, um ganz da-rin aufzugehen. Wobei ich anmerken muss, dass ein grosser Teil der „Normalen“ schon immer teilweise – ausserhalb ihres eigenen Gartens – „über den Hag gefressen“ hat und es noch immer und zunehmenderweise tut. Denn die Hetero/as werden in ihrer Anzahl ja nicht weniger – und die Community auch nicht kleiner!
Ich fürchte, die Schwulen und Lesben befinden sich in einem Übergang, in welchem sie – gefühlt – immer mehr und umfassender werden und dabei die heterosexuelle Norm aus den Augen verlieren. Ja sogar diese als „Homoehe“ oder „gay wedding“ selber verinnerlichen. Den Sex und die Liebe „unter sich als Gruppe“ machen Schwule – vor der Gesellschaft verborgen – in der Subkultur. Und in der medizinischen Diskussion ist es das Ziel, „genauso wie Heteros“ frei von Kondomen und Vorschriften das Sperma rundum verteilen zu können. Selbstverständlich unter Wahrung der Fassade von Beziehungen und Zweierverhältnissen in der Öffentlichkeit, möglichst noch „göttlich eingesegnet“. Insofern ist die Schwulenbewegung wirklich tot.
Die Community (welche Individuen sie in Gruppen auch letztlich umfasst) baut undiskutiert ganze Begriffskomplexe um: die HIV-Betroffenen werden im „queer“ schon gar nicht mehr erwähnt oder gar mitgemeint. Schwul kann ja jetzt bald die PreP-Medis schlucken…
Die Queers in den USA wehrten sich gegen medizinische Wörter und suchten sich andere Eigenbezeichnungen. Heute wird ein medizinischer Begriff inflationär für die Feinde einer Diversity verwendet: Homophobie ist die „krankhafte Angst“ vor schwulem Sex! Politisch tun wir damit unseren Antagonisten eine Ehre an, denn wer kann schon etwas dafür, wenn er vor Schwulen homophob krank ist?!
In einem kürzlichen Interview von SRF-Radio mit McCut (Jürg Halter) zum Thema Feindlichkeiten im Rap, verwendete dieser am Anfang Homophobie und am Schluss zusammen mit Antisemitismus, Frauen- und Ausländerfeindlichkeit das Wort Antihomosexualität. Es gibt durchaus Personen, die politisch keine Angst haben und dafür feindselig sind! Dies muss nicht zwingend eine krankhafte Angst als Ursache haben, es kann eine primitive Verachtung sein, wie gegenüber Frauen.
„Intersektionalität“ beschreibt die verschiedenen Überschneidungen von Unterdrückung / Diskriminierung und die daraus erfolgende Befindlichkeit. Kritik wird aber an einer Hierarchisierung geübt, die meistens darauf hinaus läuft, wieviel Leid ein Individuum oder eine Gruppe in ihrer Geschichte zusammengezählt erfahren hat. Das führt zu gleichzeitigen Täter- und Opfer-Rollen, die nicht alle „verstehen“ können. Zu diesem Thema hat Anja Meulenbelt 1988/1991 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus. (1) Sie schreibt:
„Die Schwierigkeit darin besteht, dass es sich hierbei nicht um ein einfaches Zusammenzählen von Unterdrückung handelt… Die Arbeiterklasse besteht aus Frauen und Männern. Ausländer ebenfalls. Homosexuelle auch. Einige Homosexuelle sind schwarz. Frauen sind hetero- oder homosexuell oder beides.(Männer auch, pt) Von einem Grossteil der Literatur wird das wenig berücksichtigt. Es ist schon früher angemerkt worden, dass die meiste Literatur über Rassismus davon auszugehen scheint, alle Schwarzen seien Männer. Und die feministische Literatur gibt vor, alle Frauen seien weiss. Wo bleiben denn die schwarzen Frauen?… Und lesbische schwarze Frauen?…
Um es noch komplizierter zu machen: Kaum jemand ist nur die Summe von Unterdrückungen. Ich bin eine Frau (unterdrückt), aber auch weiss (herrschend) und stamme aus der höheren Mittelschicht (ebenfalls herrschend). Einer meiner Freunde ist schwarz (unterdrückt), aber männlich (herrschend) und heterosexuell (herrschend). Kaum jemand von uns gehört nur zur Gruppe der Unterdrücker, sonst wäre es beträchtlich einfacher, eine Strategie zu entwickeln, die uns von Unterdrückung befreit. Jede Minderheit könnte sich organisieren, wir bündeln die Kräfte, und siehe da, eine Grosse Mehrheit mit nur einem einzigen Feind: Eine kleine unpopuläre Gruppe weisser, heterosexueller, nichtjüdischer (2) Mittelschichtmänner zwischen dreissig und vierzig. Nicht behindert.“ (S. 56-58)
„Es gibt keine Bewegung, die nur ICH sagen kann. Es gibt keine kollektive Bewegung, die ständig für jeden von uns spricht, schreibt Adrienne Rich. (3) Es geht um ein neues Wir, nicht der pluralis majestatis einer herrschenden Gruppe, die glaubt, im Namen der anderen zu sprechen, sondern das Wir von: wir, die wir uns voneinander unterscheiden, Wir, die wir nicht gleich sein wollen. Dieses Wir muss noch errungen werden. Um Unterschiede zu überbrücken, müssen wir sie (aber auch) kennen.“ (S. 17)
An diesem Punkt befinden wir uns gerade aktuell. Es lohnt sich, darüber zu lesen und nachzudenken. Peter Thommen_68, Schwulenaktivist
1) Anja Meulenbelt: Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus, (übers. a d Niederl.) 335 S. roro 9355, 1993 ISBN 97833499193552, (nur antiquarisch) – 2) Meulenbelt ist Niederländerin und thematisiert auch Antisemitismus und den Rassismus gegenüber Surinamern (ehem. Kolonie) – 3) in: Notes Toward a Politics of Location, 1985