risikomanagement – lebenslang?

Die Sexualität – so denken viele Leute – sei der letzte Bereich, der noch ungeregelt und „frei“ sei. Wo sie sich „fallenlassen“ könnten und wo sie sich uralten Träumen und Fantasien hin (!) geben könnten…

Das erinnert mich an die Abenteurer vom letzten Jahrhundert, die Kolonien eroberten und unbekannte Länder besuchen wollten, oder Berge besteigen…

Beides war und ist wohl eine Flucht aus dem „überregelten“ Alltag! Fremde Länder, ungeregelte Sexualitäten, unerfüllte Sehnsüchte und Fantasien dirigieren aus dem Bauch herauf unser Verhalten.

In allen Fällen wird sorgfältige Risikoabwägung gegen den Verlust des Lebens oder Beschädigungen der Gesundheit angestellt. Keiner geht mit Turnschuhen aufs Matterhorn, oder ohne Rettungsboote in ein Schiff. Aber in der Sexualität – da soll alles anders sein?

Das Infektionsrisiko mit Aids ist hoch – und trotzdem wird es im eigentlichen Sinne verharmlost. Nicht mehr nur Pharmakonzerne versprechen „länger leben mit (!) AIDS“ (was auch missverstanden werden kann. Es gibt mehr Dumme als sogar Gott glauben kann!)

Ich habe kürzlich das Buch von Simon Froehling aus der Zürcher Szene (Langer Nächte Tag), sowie von Airen (Strobo) aus der Berliner Szene gelesen. Aus eigenen Beobachtungen und Informationen weiss ich aber auch, dass immer mehr Drogen, „Chems“ und andere ungesunde Lebensweisen für Männer eine grosse Rolle spielen, bei der Suche nach dem „jüngsten“ Kick in der „ungeregelten“ Homosexualität.

Irgendwie schräg kommt mir daneben herein, wie so viele „Regenbogenleute“ staatliche Regelungen, Gesetzesgleichstellungen für schwules Leben fordern – oder mit der ePartnerschaft erreicht haben. Das ist wie die zwei Seiten einer Medaille…

Es scheint mir, dass das Hauptziel der saferen Praktiken für eine schwule Gesundheit ziemlich aufgegeben worden ist – auch in der allgemeinen Prävention. Neues Hauptziel im Sexualleben zwischen Männern ist anscheinend der Fick ohne Gummi. Entweder wird das (hohe) Risiko verdrängt (mir wird das nicht passieren), oder es wird für Männer ebenso wichtig, ihren Saft auszutauschen, wie es für die Fortpflanzung der Heteros wichtig ist. Der „schwule Risikovorteil“ mit dem Kondom ist unwichtig geworden. Das Risikomanagement wird nach der Infektion einfach weitergeführt, indem die Virenlast mit Medikamenten gesenkt wird und damit – von den Aidshilfen – neue Hoffnungen genährt werden, „wieder ohne“ ficken zu können…

Es bleibt vorläufig dahingestellt, inwiefern diese „Heterosexualisierung“ auf die homosexuellen Akte einwirkt, welches die Motive und welche tieferen Sehnsüchte dafür verantwortlich sind. Phil Langer hat in seiner Studie jedenfalls sehr viele psychische Defizite ausgemacht, die sich im (späteren) Sexualverhalten auswirken. (Ich wage da auch den Vergleich mit der „Anpassungserziehung“ der Frauen!).

Die Erkenntnis aus der früheren Schwulenbewegung, dass heterosexuelles Verhalten auch heterosexuelle Probleme ergibt, wird hier tragisch-prophetisch erfüllt. Ich selbst erlebe immer wieder heterosexistisches Verhalten mir und meiner Homosexualität gegenüber. Zu meinem Glück habe ich eine schwule Identität (erwerben können), die sich dagegen stellen kann. Dafür zwei Beispiele: Viele bisexuell und hetero Orientierte betrachten die anale Penetration als „Homosexualität per se“. Sie identifizieren sich nicht mit ihrem Partner, sondern „nehmen“ ihn, wie bei Frauen, in Besitz, „brauchen“ ihn einfach für ihre Bedürfnisse. Aufgefallen sind mir auch junge Männer aus verschiedenen Ländern in Afrika, die sich in schwulen Kontaktplattformen an ältere Männer heranmachen, um sie für sich zu gewinnen. Sie behandeln mich wie sie Frauen behandeln: Antworte ich bestimmt, aber höflich, dann nehmen sie dies als Zeichen, mich „in Besitz“ zu nehmen: Ich soll sofort meine email hergeben und aus meinem Leben erzählen. Ich bin gleich ihr „Darling“ und bekomme diese üblichen Koseworte verpasst…

Es gibt nun auch Männer und Homosexuelle, die sich gleich in die weibliche Rolle werfen, um besser bei heterosexuell Orientierten zu landen. Dabei spielt das Angebot des Anus für deren Befriedigung eine grosse Rolle. Aus früheren Zeiten kenne ich bereits, dass es gewisse Männer gibt, die nicht mit Homosexuellen Sex haben wollen, sondern nur mit heterosexuellen Mackern…

Vielen jungen Männern erscheint es so, wie wenn sie nur zwischen diesen Rollen wählen müssten, oder darin einfach nur abwechseln könnten. (aus GR: „I am yours if u want ;-)“ (21 J.) Darüber hinaus scheint ihnen ihre eigene Gesundheit oder Psyche nicht besonders erhaltenswert.

Die „Auferstehung als „Infizierter“ macht den meisten Betroffenen grosse psychische und soziale Probleme. Dass die Furcht vor dem nun erlebten „Infektionsfick“ so klein war, kommt mir wiederum sehr schräg herein! In letzter Zeit habe ich persönlich auffällig viele Neuinfizierte (neu) kennengelernt. Was in den letzten Jahren so „herumgeboten“ wurde als unglaubliche Beobachtungen in Saunen, tritt jetzt persönlich an mich heran. Nun, ich habe keine Probleme mit AIDS. Für mich haben alle HIV und ich verhalte mich auch JEDEM gegenüber safe beim Sex. Aber muss ich jedem immer auch mein Mitleid schenken?

„Länger leben mit AIDS“ – „Besser leben mit HIV“? Wieso heisst es nicht: Länger gesund bleiben mit Safer Sex, geborgen sein in einer schwulen Gemeinschaft? Was nützt der Freund, der mich infiziert hat, wenn ich sonst keine Freunde habe? Was sollen nun die anderen Schwulen für eine Rolle spielen, wenn mann sie vorher „nie nötig“ gehabt hat? Alles Fragen, die mann sich meist auch hinterher nicht offen zu stellen mag…

Ich erinnere mich gerade an einen TV-Bericht über die 24 h-Apotheke in Zürich. Da würden – so wurde erklärt – am frühen Montagmorgen oft Girls und Frauen anrennen, um sich „die Pille danach“ zu besorgen… Von HIV war da gar nicht die Rede.

Ich bin mir auch nicht so sicher, ob „das Risikomanagement danach“ – also in der HIV-Infektion dann auch wirklich zu managen anfängt, wenn es doch vorher schon nicht geklappt hat! Was Risikomanagement vor der Infektion bedeutet, ist eigentlich ziemlich allgemein bekannt. Aber was bedeutet es NACHHER?

„So ist das Virus zwar (noch) nicht restlos kleinzukriegen, da es seinerseits Strategien entwickelt hat, um sich an der anti-retroviralen Therapie (ART) vorbeizumogeln, indem es sich in körpereigenen Reservoirs versteckt, etwa im Gehirn oder im Darm, wo Medikamente offenbar weniger effektiv wirken.“ (Heiko Jessen, HIV-Arzt und Internist in der Siegessäule 9/10, S. 88)

„Themen wie Arbeitslosigkeit, Frühverrentung, Altersarmut, Vereinsamung, aber auch Sorgen am Arbeitsplatz und Angst vor Diskriminierung im Alltag spielen dabei eine Rolle.“

„Relativ neuen Datums sind Erkenntnisse über die chronische Entzündung… Wahrscheinlich wird die Darmwand eines HIV-Positiven im Verlaufe seiner Infektion durchlässiger für bestimmte Biosubstanzen, die sonst im Darm verbleiben. Diese gehen über ins Blut und verursachen Entzündungen. Der chronische Entzündungsreiz führt zu einer Voralterung des Organismus. Alterserscheinungen, die Menschen mit 60 oder 70 Jahren haben, Entzündungen oder degenerative Erkrankungen, können bei HIV-Infizierten schon mit 40, 50 oder früher auftreten…“ (S.89)

Regelmässige Medikamenteneinnahmen, gehäufte Vorsorgeuntersuchungen gehören alle zum lebenslangen „Risikomanagement“. Doch wer ist bereit, in „seinem Unglück“ dann noch auf Alkohol und andere Drogen zu verzichten?

Alles Fragen, die nie öffentlich diskutiert werden und damit keinen „erzieherischen“ Einfluss auf das Verhalten von Infizierten und nicht Infizierten nehmen können.

Keikawus Arastéh (äussert sich zur Prävention. Sein besonderes Anliegen:) „Die Frage, wie gehen Jugendliche zu Beginn ihrer Sexualität mit dem Thema HIV um? Für mich ein eminent wichtiger Schwerpunkt. Gerade in dieser diversifizierten Gesellschaft haben wir verschiedene Anzusprechende: ältere Menschen mit und ohne HIV, die Mittelalten, die Jungen mit unterschiedlicher sexueller Ausrichtung. An der Stelle vermisse ich ein Gesamtkonzept. Wir können in einer Metropole wie Berlin keine Prävention machen wie in kleineren Städten…“ (S. 92)

Wir sollten aufhören, irgendwelchen Männern zu versprechen, sie könnten „dann mit reduzierter Virenlast“ wieder Sex ohne Kondom machen! Darauf ist mann nur bei der Fortpflanzung angewiesen – also bei Heteros! Im Männersex ist der Säftetausch vor allem verbunden mit Illusionen über Männlichkeitserwerb, Besitzansprüchen und anderen tiefenpsychologischen Vorstellungen, die es endlich öffentlich zu thematisieren und zu entmythologisieren gilt! Man hat früher den Heteros auch den sexuellen Himmel versprochen, wenn sie dann mal verheiratet seien. Das glaubt wohl heute keineR ernsthaft mehr!

Solange sich Aidshilfen, Mediziner und Psychologen weigern, setzen sie nur eine alte Tradition von Totschweigen über die Homosexualität als Lebensform fort. Wenn es dann um Jugendsexualität, Faschismus oder gar „Pädophilie“ geht, dann läuft den politisch und juristisch Verantwortlichen schon der Mund über – mit Behauptungen und Verdächtigungen die homophobe Fanatiker schon jetzt in kleinerem Kreise in Gebrauch haben.

Peter Thommen60, Schwulenaktivist, Buchhändler, Basel

siehe auch: Barebacking als Anzeichen einer gescheiterten Emanzipation

„Ich kenne die Risiken, ich will Sperma in meinem Arsch.“  (49) Gayromeo

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*1950, Buchhändler, Schwulenaktivist, ARCADOS Archiv für schwule Studien
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