Wie Schwule, Lesben und Transvestiten*
1969 in New York zum Widerstand fanden.
Ich war damals in einer Buchhändlerlehre in Basel und entdeckte die „geheimen“ Treffpunkte der Männer, die Sex mit Männern suchten, von denen ich in dem Vorort, in welchem ich aufgewachsen war, nichts gewusst hatte. Ich sah die Telefonnummern auf den Toilettenwänden und die dunklen Schatten des Nachts, wenn ich abends im Schützenmattpark unterwegs war.
In diesem Jahr fanden auch die
Demonstrationen gegen die Trampreiserhöhung statt, angeführt von
linken Studenten. Ich bin verhaftet und erstmals
„erkennungsdienstlich“ behandelt worden. Ich war also mit
„heterosexuellen politischen Problemen“ beschäftigt, während
gleichzeitig in New York die Falschsexuellen sich gegen
Polizeiwillkühr wehrten. Ich wusste gar nicht, dass mir
Sexualkontakte in meinem Alter (19 J.) noch gar nicht gestattet
waren. Meine erste grosse Liebe fand ich dann ein Jahr später und
machte danach auch mein coming out mit zwanzig. Damals war also
gerade „meine Zeit“ – und vom Alter her gerade rechtzeitig!
Wie war denn die gesellschaftliche
Situation von Homosexuellen im Amerika der 60er Jahre? Edmund White
schildert das in einem Essay sehr gekonnt! (1)
„Wenn Homosexuelle sich selbst als
‚krank‘ betrachten, und die meisten, die ich kenne, tun das, dann
kann diese Annahme selbstverständlich nur katastrophale Auswirkungen
auf ihr Selbstwertgefühl haben… Oft kann man eine Tunte zur
anderen ganz liebevoll sagen hören: „Du bist ja krank, Herzchen“
oder: Schätzchen, ich liebe dich, du bist eine Irre.“ Aber diese
Einstellung, so charmant sie auch sein mag, bringt wenig Trost. Die
meisten Homosexuellen bleiben dabei, ihre Liebesaffären, Meinungen
Freundschaften – all ihre Erfahrungen – als krankhaft und unecht
zu empfinden. (2)
Warum haben sich schwule Männer mit
diesem wirklich bösartigen Urteil gegen sich selbst abgefunden? Der
Hauptgrund ist vielleicht der, dass sie Angehörige dieses Zeitalters
und dieser Kultur genauso wie alle anderen sind, dieselben Dinge
bewundern und dieselben Moden annehmen. Ehe es mit der
Black-Revolution losging, waren die Schwarzen in derselben Lage und
verleumdeten sich gegenseitig, indem sie weisse Vorurteile
übernahmen. Wie die antisemitischen Juden oder die niggerhassenden
Schwarzen hat der schwulenfeindliche Homosexuelle die Meinung der
Mehrheit über ihn und seine Freunde verinnerlicht…
Ein anderer Grund, weshalb
Homosexuelle die Kennzeichnung ‚krank‘ akzeptieren, ist der, dass sie
selbst oft alle ihre Leiden völlig unterschiedslos ihrer
Homosexualität anlasten.“ (S. 39-40)
In der Zeit, als White dies schrieb, existierten in allen amerikanischen Bundesstaaten, bis auf Illinois, immer noch Gesetze gegen sämtliche homosexuellen Handlungen.
„… Politiker gewinnen Wahlen,
indem sie in der Stadt ‚aufräumen‘ und Polizisten anweisen, Razzien
in Schwulenbars zu machen und verdächtige Homosexuelle als
Herumtreiber festzunehmen, und Hetero-Leute ergehen sich ohne Ende in
windigen Verallgemeinerungen über das Schwulsein…“ (S. 48)
White bedauerte, dass Homosexuelle keine einheitliche soziale Klasse bilden mit gemeinsamen ökonomischen Zielen. (Heute werden sie „vereinheitlicht“ und mit klaren Konsumangeboten überhäuft. Selbst die reichen Schwulen, die sich mit „armen Jungs“ abgeben, würden gegen ihre eigenen politischen Interessen wählen. Das sehen wir heute bei Schwulen in der SVP, die ihre Führung nicht umstimmen können (>Beat Feurer, Hans-Ueli Vogt, u.a.).
Wie in Amerika
mussten sich auch in der Schweiz Schwule gegen unverhältnismässige
Schikanen von seiten der Polizei wehren, die glaubte, im Interesse
der Stimmbürger und „besorgter Eltern“ handeln zu müssen. Von
einem Detektiv habe ich später persönlich erfahren, dass während
dessen Ausbildungszeit sie gezielt in die Toiletten geschickt worden
sind, um Schwule zu „kontrollieren“.
„So vieles von
dem Kummer, den ich erlitten habe, und den ich meine homosexuellen
Freunde habe erdulden sehen, rührte von erfolglosen Versuchen her,
die homosexuelle Erfahrung in Fertigformen zu pressen. Zum Beispiel
versuchen viele schwule Männer immer wieder, mit ihrem Geliebten den
Abklatsch einer normalen Ehe herzustellen. Der eine Schwule spielt
spielt den ‚Kerl‘, und der andere die ‚ische. Jede Treulosigkeit wird
als Bedrohung dessen gesehen, was sie verbindet, nämlich ihrer
‚Ehe‘. Promiskuitive Perioden zwischen Liebesverhältnissen werden
als Beweis dafür angesehen, dass der Homosexuelle ‚infantil‘ und
ausserstande ist, dauerhafte Beziehungen herzustellen.“ (White,
S. 51)
Mit Edmund White
bin ich einig, dass Beziehungen nicht auf heterosexuellen Mustern
beruhen müssen und dass der flammende Sex nicht die Hauptgrundlage
bilden muss. Freundschaften mit etwas mehr Atemluft drum herum können
genauso binden und halten bis ans Lebensende. Amen.
Solche Paarschaften
hat es immer wieder gegeben, sei es ohne Feuer und Flamme, oder nach
dem langsamen erlöschen dieser „Energiefresser“!
Wir haben uns also
Anfang der 70er Jahre vor allem mit der Polizei und den einzelnen
Beamten herumgeschlagen und versucht, deren Einstellung zu ändern,
indem wir offen auftraten und zusammen kamen, nicht nur um Sex zu
haben, sondern auch um auf die Strasse zu gehen und für unsere
Rechte einzustehen.
Wir
Bewegungsschwulen hatten weniger das Problem der damals verbotenen
männlichen Prostitution (unter Frauen auch verboten, aber das
interessierte keinen!), als dasjenige des „Schutzalters“ von 20
Jahren. Vorher war Sex offiziell verboten. (Hetero/as durften bereits
ab 16!)
Wir mussten also
gleiche Rechte für unsere sexuellen Bedürfnisse erstreiten und
nicht für unsere „Liebe“, wie das heute allgemein so benannt
wird! (Grrrrr!:( )
Liebe zwischen Männern oder zwischen Frauen war nie verboten – aber „Liebe machen“! Zudem hatte die Gesellschaft weniger das Problem der öffentlich gelebten Nähe zwischen Frauen, als dasjenige der Nähe zwischen Männern. Und letztlich stellte uns Schwule das „niedrigere“ Schutzalter in die Ecke der „Pädophilen“, aber mit den LiebhaberInnen junger HETErosexueller hatte keineR ein Problem!
Ich bin heute 69 Jahre alt geworden. Ich bin froh, nicht mehr 19 zu sein! Ich bin der Schwulenbewegung dankbar, die mir den Weg zur Persönlichkeitsentwicklung und Erfahrungsverarbeitung gezeigt hat. Letztlich bin ich auch meinem Buchladen dankbar, der mir die Informationswege geöffnet hat – nicht nur für mich. Peter Thommen_69, Schwulenaktivist, Basel
„Das Wichtige an der Homosexualität ist, dass sie die Kraft hat, dem schwulen Mann zu helfen, nicht den schönen Schein des Lebens abzustreifen, sondern den schönen Schein in all seiner Äusserlichkeit sichtbar zu machen. Der Homosexuelle kennt die Illusion der Natürlichkeit aus erster Hand, weil er schon früh das zu imitieren lernt, was andere Leute für „natürlich“ halten, und weil er von allen Seiten hört, dass das, was ihm ganz „natürlich“ zugefallen ist, „unnatürlich“ ist.“ (David Bergmann in seiner Einleitung zur Übersetzung, S. 15)
* Geschlechtsanpassungen waren
chirurgisch erst in den 70er Jahren möglich!
1) Der schwule Philosoph, geschrieben 1969, publiziert in: The Burning Library, 1994, übersetzt für die Ausgabe im Kindler Verlag von David Bergman, 1996
2) Die zweite Möglichkeit besteht darin – bis heute – ein Symptom zu entwickeln, das einen Krankheitswert darstellt, zB Fetische – und diese fleissig zu „bewirtschaften“. Die Dritte: Dem Gegner eine Krankheit zuzusprechen: „Homophobie“. (PT)
„Es ist ein Phänomen, das auch bei Holocaust-Überlebenden aufgetreten ist: Wenn wir unsere Geschichten erzählen, dann verlieren wir unsere Symptome.“ (Ibrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags von Mölln)
Im Januar 2018 war ich bei Daniel Frey (gayradio Bern) zu einem Gespräch eingeladen! Es fasst viel Wesentliches zusammen – Amen! 😉
Martin J. Gössl: Als die erste Münze flog und die Revolution begann. Die Homosexuellen-Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jh. in den USA, historische Betrachtung und Analyse, Edition Regenbogen 2009, 135 S. – (in ARCADOS Bibliothek)