50 Jahre „coming out“

Bei allen Erinnerungen und Gesprächen über das Jubiläum der „Homosexuellen Arbeitsgruppen“ in der Schweiz (später HACH, queer) geht vergessen, dass es auch ein „before Stonewall“ gegeben hat.

Um die Gründe für die Entstehung der Schwulenbewegung zu verstehen, muss mensch sich in jene Zeit der 60er und 70er Jahre versetzen. Ich habe das erste Buch von Alexander Ziegler (1944-1987), „Das Labyrinth“ (1970) nochmals gelesen und Zeitungsartikel über ihn. Der damalige Zeitgeist war erfüllt von technischem Fortschritt und dem langsamen Zerfallen von Traditionen. Die Bevölkerung wurde mobiler und die Städte erhielten Zuwanderung. Schwule haben sich „privat“ in Zirkeln oder an Stammtischen getroffen. Im öffentlichen Raum bewegten sie sich „anonym“ in dunklen Parks und öffentlichen Toiletten. Wie heute in der Anonymität des Internets brachte das Gefahren für Schwule. Die herkömmliche Organisation half mit juristischer und psychologischer Beratung. Vermehrt wurden sie Opfer von Raub und Hassverbrechen.

Kriminalkommissar Hans Witschi wies auf „5 Morde seit 1958 in Zürich“ hin (1965). Einige der vielen Mordfälle, die damals in der Presse bekannt geworden sind:

09. Juni 1957, Mord an Robert Oboussier – 26. Dez. 1957, Mord an Ernst Rusterholz – 03. Dez. 1961, Mord an Heinrich Gähler – 06./07. Juni 1963, Mord an Ernst Ebinger – 07./08. Sept. 1963, Mord an Peter Flügel – 09. Okt. 1967, Werner Seifert – 21. Sept. 1969, Jacobus   de Mul.

Weitere Fälle zogen sich in Basel vereinzelt noch bis Ende der 90er Jahre. Die Zeitungen brachten das „Homo-Milieu“ durch ihre Gerichtsberichte an die Öffentlichkeit. Mitten im Kalten Krieg veröffentliche das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement 1969 ein Taschenbuch für jeden Haushalt zur Anleitung in Zivilverteidigung. Darin war unter „Sabotage und Subversion“ zu lesen, dass ein Mann, der „widernatürliche Beziehungen“ pflege, vom Feind erpresst werden könne, Öl in ein Reservoir zu giessen.

Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt.“ So 1971 der Titel des Films von Rosa von Praunheim. Nach dessen Aufführung beschlossen Schwule, sich in Gruppen zu treffen und an die Öffentlichkeit zu gehen. In Basel zeigten sie sich am 1. Mai als neu politisierte Minderheit. Die Jugendunruhen zeigten sich auch in Zürich und die Polizei war in jenen Jahren im öffentlichen Raum so „beschäftigt“, dass sie ihrer „sittenpolizeilichen Aufgabe“ nicht mehr mittels regelmässiger Razzien im „Männermilieu“ nachkommen konnte.

StudentInnen an der Universität in Zürich organisierten in der Aula die Vortragsreihe „Sexualität und Gesellschaft“, die sich an ein allgemeines Publikum richtete. (11/1972 – 3/1973). Leute aus allen HA-Gruppen pilgerten an diese Vorträge. Das zog auch Interessierte für die Schwulenbewegung an. Diskussionen darüber fanden in den HAZ-infos ihren Niederschlag, wie auch Kritik an Bundesgerichtsentscheiden. (> Zentralbibliothek ZH)

Es zeigten sich Probleme auch innerhalb der Gruppen. Biedere wehrten sich gegen linke Bewegungen, Bürgerliche gegen ein Auftreten in der Öffentlichkeit. Frauen hatten andere Probleme und die „Unsichtbaren“ hielten sich immer am Rande auf. So dass Martin Fröhlich später während der Demos in Bern rief: „Ihr müsst auch mitlaufen, ihr gehört auch dazu!“

Das „zeitkritische“ Magazin „focus“ in Zürich publizierte in der Juli/August-Ausgabe 1973 ein Gespräch, das die Redaktion mit den Exponenten der Bewegung geführt hatte. Teilgenommen hatten Hanni von der Frauengruppe, Martin und Michael von den Männern, sowie Edi und Erwin von den traditionellen „Homophilen“. Diese hatten versucht, mittels Inseraten in den Tageszeitungen an neue Leute heranzukommen, diese wurde von den Verlagen jedoch abgelehnt. Die Leute von der HAZ fühlten sich hinwiederum von interessierten Presseleuten „verstanden“. Durch einen Leserbrief an „focus“ erhielt ich die Adresse der Basler Gruppe und fand so den Zugang zur Schwulenbewegung – in Basel.

Im Nachgang zur katholischen Synode 1972, welche „pastorale Richtlinien“ für die Begleitung „gleichgeschlechtlich Geneigter“ suchte, trat auch das reformierte Tagungszentrum Boldern (Männedorf/Helferei ZH) an die Öffentlichkeit, um gemeinsam mit „Betroffenen“ und den HA-Gruppen Vorurteile an Tagungen abzubauen. Sie fanden ab Januar 1974 jährlich wiederholt statt, die organiserten Lesben kamen 1977 dazu. Leider fanden sich „die Heterosexuellen als Gesprächsparter“ nur vereinzelt ein, wie später verlautete.

Die Leiterinnen, Marga Bührig und Else Kähler, traten 1978 dann auch in der Telearena des Schweizer Fernsehens auf. Darin wurden Szenen aus dem schwulen Leben gespielt, um anschliessend darüber mit den eingeladenen Gästen zu diskutieren. Das Konzept war gut gemeint, hielt aber der realen Kritik des schwulen und lesbischen Publikums nicht stand. Ein hetero Mann kritiserte, dass viel zuviele Betroffene anwesend seien, worauf ich ihm zurief: „Jetzt wissen sie mal wie es ist, in der Minderheit zu sein!“

Dieses Medienprojekt war insofern „revolutionär“, als es die Gespräche „über bedauernswerte Schwule“ beendete und die direkte Diskussion mit uns eröffnete. Es war das mediale coming out in der Schweiz. Die Wut der Schwulen und Lesben traf sich mit dem Schrecken der Heterosexuellen – genau umgekehrt wie es bisher in der vereinzelten Lebenssituation war. Es läuft eine Dynamik ab, die unterschiedlich lange dauern kann bis eine Person „aus dem Schrank“ tritt. Sie baut sich immer wieder zu neuen coming outs auf und diese sind gegenseitig mit der Gesellschaft.

Am 23. Juni 1979 fand in Bern die erste Demonstration statt, mit der wir (Deutschweizer) mit dem Anspruch einer landesweiten Repräsentation auftraten: „Bärn het Schwuli gärn – Gegen Zwangsheterosexualität“ waren die Parolen. Es gab aber auch Gruppen in der Romandie und eine im Tessin. Jährlich wiederholten sich diese coming out‘s auf lokaler oder nationaler Ebene. In den Städten sammelten wir damals Unterschriften für die Abschaffung der „Homoregister“, die angeblich zu unserem Schutz eingerichtet worden seien – sie wurden dann abgeschafft.

International wurde der Wunsch nach gesicherten gleichgeschlechtlichen Beziehungen formuliert und politisch eingebracht. In der Schweiz führte das 2005 zur Abstimmung über die Eingetragene Partnerschaft, die am 1. Januar 2007 eingeführt worden ist. Die PolitikerInnen und Stimmberechtigten hatten ihr coming out. Dies ist uns nicht in den Schoss gefallen, sondern die Folge enormer politischer Arbeit, die frühere Generationen gescheut hatten. Allmählich veränderte sich bürgerliches Denken und linke Aktivisten waren zunehmend hilflos gegenüber biederen Forderungen aus den Gruppen.

Der nächste Schritt ist die Öffnung der heterosexuellen Ehe „für alle“. Die Abstimmung wurde am 26.09.2021 gewonnen, tritt am 1. Juli 2022 in Kraft und ist das aktuellste coming out unserer Gesellschaft. Schon 1970 begann Alexander Ziegler seinen Roman mit dem Traum einer Ehe – zwischen einem Staatsanwalt und dem Angeklagten

Die Homosexuellen Arbeitsgruppen hatten die Gleichwertigkeit ihrer Sexualität verkündet – gekommen ist die „Ehe für alle“. Zu welchem Schutz ist das neue Eheregister nun wirklich? Solange es Menschen gibt, die glauben, sich „in die Mehrheit“ flüchten zu müssen, wird es andere Menschen geben, die ihr coming out haben.

Peter Thommen_72, Schwulenaktivist Basel  (Der Text erschien – etwas kürzer – auch im Cruiser-Magazin vom Juni 2022, S. 25-26)

Podiumsdiskussion (1 h ) zu 50 Jahren HA-Gruppen, moderiert von T. Urech, aufgenommen und präsentiert von gayradio, April 22

Vor 50 Jahren machten HA-Gruppen ihre ersten Schritte, zB die HABS

„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt.“ Dieser Film von Rosa von Praunheim (1971) wurde am 25.06.2015 im SchwuZ Berlin diskutiert. (1 h)  Patsy l’Amour laLove moderierte das Podium mit Martin Dannecker, Peter Hedenström und Detlef Stoffel zum emanzipatorischen Aspekt des Films: Sowohl was seinen Inhalt angeht, als auch seine Wirkung. Ist er bloß Provokation und schoss er über sein Ziel hinaus? Wie erlebten die unpolitischen Schwulen der Zeit den Film? Was hat sich in den vergangenen Jahren in der schwulen Subkultur verändert?

Haben Staaten auch ein coming out? (Buchbesprechung/Diskussion)

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*1950, Buchhändler, Schwulenaktivist, ARCADOS Archiv für schwule Studien
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