Haben Staaten ein „coming out“?

Heute wird immer öfter – bis überwiegend – von „outen“ gesprochen und geschrieben. Es ist offensichtlich kurz und einfacher. Doch ist es auch dem Sinne nach oder der Intention entsprechend? Coming out ist ein länger andauernder Prozess mit einem Minimum an Bewusstwerdung gegenüber Familie und Gesellschaft.

Wenn wir das Wort „outen“ verwenden, dann fällt diese wichtige Entwicklung/Evaluation einfach unter den Tisch! Gut, einer kann sich längere Zeit „im Schrank“ befinden und kein Luft mehr bekommen, so dass er sich outen muss. Dann aber muss die Bewusstwerdung anschliessen…

Welcher Prozess findet bei Staaten oder Städten statt, sich zu überwinden und die Einstellung zu Intimität und Sexualität öffentlich verlauten zu lassen? Phillip M. Ayoub hat über „Europas sexuelle Minderheiten und die Politik der Sichtbarkeit geschrieben“. (1)

Bei näherer Betrachtung stellen sich ganz unterschiedliche Sichtweisen und Probleme. Bei Stonewall 1969 ereignete sich ein „Zwangs-outing“, weil die Polizei in die private Nische einer Szenebar eingriff, um die „rechte/richtige Ordnung“ wieder herzustellen.

Bei den Schweizer Schwulen waren die Demos im Nachgang der Jugendunruhen und die Folge von Mordfällen an „privaten“ Homosexuellen, die in die Presse kamen, wichtige Ereignisse, sowie die Aussicht auf eine Revision des Strafgesetzbuches von 1942, das um ein vier Jahre höheres „Schutzalter“ für „gleichgeschlechtliche“ Kontakte vorsah, als es für Heterosexuelle war. Dies galt für beide Geschlechter! (Damals waren auch „Pädophile“ an einem niedrigeren „Schutzalter“ interessiert und engagierten sich auch bei den Schwulen. Denn alle, die das Schutzalter 20 übertraten, galten als solche!)

Bei den organisierten Homosexuellen war eine frühere Selbstbestimmung im Sexual- und Orientierungs-Bereich das Ziel. („Sex vor der Ehe“!) Sie mussten bis 20 statt bis 16 warten, um vor Bestrafung „geschützt“ zu sein.

Die Schwulenbewegungen zielten zwar darauf hin, jeweils nationale Gesetze abzuändern oder abzuschaffen. Sie beriefen sich aber meist auf andere Länder und andere Kulturen! In der Schweiz war anfänglich (70er) die Niederlande Vorbild, wegen ihrer liberalen Theologen. Jeder CSD beruft sich auf ein Ereignis in den USA. In Berlin gibt es schwule Angehörige verschiedenster Länder und Ethnien, die öffentlich auftreten. Leute polnischer Herkunft trugen ein Transparent mit der Aufschrift „Solidarnosc Gejow“. Auch Wladimir Putin, als Transvestit „verändert“ wurde gezeigt.  

Die Szene zeigt den transnationalen Charakter einer Bewegung, die die nationalen Grenzen sprengt, eine für dieses Buch zentrale Dimension der Sichtbarkeit.“ (S. 22) Judith Butler lehnte 2010 den Zivilcouragepreis des CSD Berlin ab mit dem Hinweis auf dessen kommerziellen Charakter und die darin untergehenden Migrantengruppen. Sie erkannte darin einen „rassistischen Charakter“. (S.22)

Unsichtbarkeit ist für bestimmte Subgruppen innerhalb der LGBTI Community nicht nur eine Herausforderung, sondern ein Problem, das über Staaten und Gesellschaften hinaus geht, in denen sich die Anerkennung von sexuellen Minderheiten stark unterscheidet.“ (S.22-23)

Es gibt Leute, die bewusst nicht an grosse CSDs gehen, sondern zu kleinen Veranstaltungen „anreisen“, um Gruppen mit Problemen öffentlich Solidarität zu zeigen. Auch in Berlin und weiter im Westen gibt es immer wieder „Parallel-Demos“, die sich damit vom Kommerz abgrenzen wollen.

Sichtbarkeit führt zu Interaktionen der Bewegung und dem Staat. Dies gibt den Menschen Macht, indem sie Akteure dazu auffordert, den Wandel einzufordern, was sich wiederum auf die Verbreitung neuer Rechtsstandards auswirkt und neue Normen in die Gesellschaftsgefüge einführt.“ (S. 24)

Sich zu outen wurde bis dato als individuelle Erfahrung gesehen, doch Alexander Wendts schlagkräftiges Argument (1999), dass Staaten selbst formbare Identitäten sind, legt den Gedanken nahe, dass sich auch diese outen können, indem sie bestimmte Gruppen als Teil ihres Rechtsrahmens anerkennen.“ (S.24-25)

Unterschiedliche Sichtbarkeiten haben zu unterschiedlichen Rechtsentwicklungen – auch in europäischen Staaten geführt. Nur weil Regierungen „die Ehe für alle“ von oben per Dekret eingeführt haben, kann dadurch der Prozess in der Schweiz von unten nicht einfach „beschleunigt“ werden. Schon die Einführung des dritten Zivilstandes der eing. Partnersschaft setzte vorher verschiedene Gesetzesänderungen – bis ins Strafgesetzbuch voraus, woran AktivistINNen nie denken.

Nicht nur ‚Recht setzt Geschlecht‘ (2) (-sorientierung), auch Lebenstatsachen können Recht setzen, wie das z.B. Bei AIDS der Fall war. Anfängliche Beschuldigungen, jemand habe andere angesteckt, wurden zunehmend wirkungslos, weil z.B. die Virenstämme aus unterschiedlicher Herkunft nachgewiesen werden konnten.

Der Fall von ideologischen Grenzen in Europa brachte Unruhe in verschiedene staatliche Gemeinschaften. Was vorher als „typisch kapitalistisch“ galt, war allmählich auch in ehemals „sozialistischen“ Staaten festzustellen. Ich kann mich noch an Äusserungen in der Volksrepublik China erinnern, worin behauptet wurde, es gäbe da gar keine „Homosexuellen“. AIDS änderte das grundlegend. Ethnologen war bekannt, dass es sogar gleichgeschlechtliche Traditionen seit Alters her gab.

Ayoub weist auch darauf hin, dass sich sogar in „führend“ liberalen Staaten wie Niederlanden Bevölkerungskreise „unwohl fühlen“, wenn zwei Männer sich in der Öffentlichkeit küssen. (S. 27) In Deutschland will die Fraktion der AfD bei nächster Gelegenheit über ein Gesetz zur Wiederabschaffung der Ehe für alle im Bundestag Antrag stellen und beraten.

Während in der Schweiz liberale Anpassungen, die eine Volksabstimmung passiert haben, nur schwer wieder rückgängig zu machen sind, können „Fortschritte“ im Parlament – bei neuen Mehrheiten nach Wahlen – wieder gebremst werden. (Erinnern möchte ich auch an die gravierenden Veränderungen des Strafgesetzes im Sexualbereich, die seit der (liberalen) Einführung vorgenommen wurden!) Auch nicht zu schweigen ist von der Mutterschaftsversicherung (1945 in der Verfassung, 2008 realisiert) oder dem gleichen Lohn für Frauen, der politisch hintertrieben wird.

Ayoubs Buch „soll zeigen, dass die Politik der Sichtbarkit erklärt, wie und wann „schwache“ Gruppen Wandel in sozialen und politischen Systemen herbeiführen, dass der Kampf um Rechte auf Wegen der Sichtbarkeit ausgefochten wird und diese immer stärker von transnationalen Quellen profitieren.“ (S. 39) Ich erinnere mich, dass Konzerne Minderheiten-Rechte nicht nur am Hauptsitz, sondern auch in ihren ausländischen Niederlassungen gewähren.

Unsichtbarkeit bietet Schutz, erstickt Inlandsbewegungen, die einen Wandel herbeiführen wollen, jedoch bereits im Keim, da zuwenig Akteure in der Öffentlichkeit auftreten und es zuwenige geoutete LGBTs gibt, um nationweit als lokal wichtiges Thema wahrgenommen zu werden.“ (S.45)

Die Geschichte der US-Homosexuellen, wie auch die Geschichte in der Schweiz haben gezeigt, dass das Versteckspielen eigentlich nicht viel bringt. Dialog zwischen Institutionen und Minderheiten/Ausgegrenzten kann nur durch sichbares Auftreten entstehen. Es muss keineR zum Märtyrer werden. Es gilt, Verhältnismässigkeit zu wahren.

Materialteil: (Transnationale Bewegungen: Gelegenheiten, Akteure und Mechanismen – Die Gesetzgebung zum Schutz von LGBT-Rechten – Internalisierung neuer Normen: Einstellung gegenüber sexuellen Minderheiten – Polens und Sloweniens Antwort auf internationale Normen)

Das vorliegende Buch hat gezeigt, wie sich diese immer grösser werdende Sichtbarkeit auf die staatliche und gesellschaftliche Anerkennung von LGBTs in Europas Staaten auswirkt. Dabei standen zwei Fragen im Zentrum:

Wie verbreiten sich internationale Normen?

Warum begrüssen Gesellschaft und Staat in manchen Fällen den Wandel, in andern aber nicht?“ S. 228)

Wie schnell und in welche Richtung sich LGBT-Normen verbreiten, hängt auch davon ab, wie stark innerstaatliche Akteure in transnationale Advocacy-Netzwerke eingebettet sind.“ (S. 229)

Ich kann mich erinnern, dass es eine längere Zeit dauerte, bis sich Amnesty International auch für Schwule als „politische Gefangene“ einsetzte. Andererseits habe ich erlebt, dass die „Pädophilen“ von der ILGA ausgeschlossen wurden, weil ihre Forderungen an die sexuelle Selbstbestimmung im Alter noch tiefer gingen als diejenigen der Homosexuellen. Das war eine Bedingung, um als nongouvernemantale Organisation international anerkannt zu werden.

Die Fähigkeit, Minderheiten als Bedrohung wahrzunehmen, diese rational abzubauen und sich über kulturelle Tradition/Religion hinwegzusetzen, um zu einem vielfältigeren Miteinander zu kommen, ist sehr unterschiedlich.

Dies“kann erklären, warum die Verbreitung internationaler Normen oft nicht linear erfolgt: Normen, die als ausländisch wahrgenommen werden, stossen in Staaten, in denen soziale Identität auf religiösem Nationalismus basiert, auf heftigen Widerstand.“ (S. 229)

So erscheinen auch Widerstand und Gegenreaktion in neuem Licht, die dort, wo eine Bedrohung wahrgenommen wird, sehr wahrscheinlich auftreten. Paradoxerweise steigert die gegen die Normen arbeitende innenpolitische Opposition auch deren Sichtbarkeit. So konnten LGBT-Bewegungen in Europa oft beobachten, dass sich nach Wellen des Widerstands Erfolg einstellte.“ (S.230) (Sichtbarkeit in Bewegungen und transnationale Politik, S. 227-251)

Wir stehen 2018 noch immer grossen Widerständen gegenüber homosexuellen Praktiken und Lebensweisen gegenüber, obwohl es aus Epochen vor unserer Zeitrechnung schon Zeugnisse davon gibt: Keramik aus dem alten Peru (Kauffmann-Doig, 1979)

Aktuell berichtet arte.tv u.a. über Vergewaltigungen von Männern auf dem Gebiet Libyens. Ein allgemeines Tabu! In einer Kultur mit Männerliebe in der Vergangenheit und Schwulenverfolgung in der Gegenwart. Neben dem „Kriegsmittel“ der Homosexualität, wird auch brutale Politik unter Missbrauch religiöser Vorstellungen verfolgt:

Die in Afrika grösstenteils mit der westlichen evangelikalischen Gemeinde verknüpfte transnationale Homophobie wird verwendet, um Fortschritte bei LGBT-Rechten zu verhindern…“ (S. 243)

Vor allem mit Geldmitteln von US-Baptistengemeinden.

Afrika unterscheidet sich von Europa, da seine regionale Struktur keinen normativen Konsens zu LGBT-Rechten einfordert, und dies, obwohl Südafrika ein Vorreiter in Sachen LGBT-Gesetzgebung ist. Die Afrikanische Union greift in innenpolitische Debatten nicht ein, wie es die EU tut.“ (S. 243)

Uganda hat nicht zuletzt soviel internationale Aufmerksamkeit erhalten, weil es eine sehr aktive Community hat.

Russland ist ein weiteres Beispiel vom Zusammenwirken von Politik und Religion. Nach der Oktoberrevolution wurden alle diskriminierenden Gesetze Abgeschafft und vom christlich-georgischen Josef Dschugaschwili – genannt Stalin nach und nach wieder eingeführt. Das nachsowjetische Russland konnte auch nicht wieder auf solche Gesetze verzichten. Putin braucht die Orthodoxie und „opfert“ ihr Menschenrechte. Mit den Homosexuellen hat eh keineR Bedauern… Peter Thommen_68, Schwulenaktivist.

Phillip M. Ayoub: Das coming-out der Staaten. Europas sexuelle Minderheiten und die Politik der Sichbarkeit, 313 S. transcript-verlag 2017, ca. CHF 37.–Diese Seite als PDF!

LGBTIQ-Menschenrechte: Kreation und Umsetzung zwischen Verve und Kritik,  Vortrag von Prof. Elisabeth Holzleithner, Universität Wien: „Recht macht Geschlecht“, 13.09.2018 an der Uni Basel  Yogyakarta-Prinzipien

Homosexueller Internationalismus, JS  LUST-zschr. 2012

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*1950, Buchhändler, Schwulenaktivist, ARCADOS Archiv für schwule Studien
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