Wegzehrung in der Szene

Dieses Jahr durfte ich wieder einige Nachrufe auf verstorbene Schwule schreiben, die Aktivisten, Klemmschwestern oder auch stille Besucher der Szene waren. Auch habe ich wieder hie und da etwas über „unsere Szene“ geschrieben (arcadosbuchladen-info)

Bei Däni Gotsch schrieb ich: „Jede Abschiedsfeier, an welcher wir teilnehmen, ist ein Stück Vorbereitung auf unseren Abschied – dem Loslassen vom Leben.“ Daher ist jede Teilnahme an einer Abdankung nicht nur ein „sich zeigen“ vor den Anderen, oder gar ein Akt der Solidarität, sondern auch – ganz egoistisch – auch ein Erlebnis für sich selber.

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalmen 90, 12)

Eine Wegzehrung sind auch kleine Kolumnen und Glossen über die Szene, über andere Leute – egal wie beliebt sie sind – oder über Sexualpraktiken in den Zeiten von AIDS.

Nicht nur da sind Sex und Tod nahe beisammen, sondern sogar schon im Sex selber. Es beginnt mit all den Millionen Spermien, die ein weibliches Ei nicht erreichen. Egal ob sie in einem Anus (unvergesslicher Comic von Ralf König! „Ja wo sind wir denn gelandet hier?“) oder in einer Gebärmutter landen. Auch im Moment der Zellteilung stirbt das Sperma sozusagen in Metamorphose für ein neues, wiederum sterbliches Lebewesen…

Doch ich möchte nicht dem Biologismus huldigen, der allenthalben wieder hoffähig wird. Eine Klemmschwester, die ihr coming out wagt, um nachher als Schwuler aufzuerstehen ist genauso wichtig, wie ein Zeugungsakt. Eine „Spätgeburt“ sozusagen. In jedem Orgasmus sei ein „petite mort“, behauptet die französische Sprache und jede menschliche Trennung ist ein psychisches Trauma, das bewältigt werden muss – egal aus welchen Gründen.

Mitten im Fick kann es passieren, dass der Partner beschliesst, Schluss zu machen. Nicht urplötzlich, sondern als Konsequenz der vergangenen gemeinsamen Zeit. Oder weil es zuwenig gemeinsame Zeit in der Vergangenheit gab. Oder weil es keine Zukunft für zwei Partner gibt, wird Sex umso intensiver gemacht…

Als ich einige Zeit den Baslerstab ausgetragen hatte, nahm ich jedes Mal langsam meine Schmerzen im Magen wahr. Auch wurde ich während der Tour leicht depressiv. Ich musste lernen, meinem Körper eine Wegzehrung zu geben:  Schokolade für den Blutzuckerspiegel und auf mehr als einer Tour noch etwas heissen Tee oder Kaffee. Heute gibt’s jedes Mal in der Mitte noch Brot und Käse. Ich war es eben nicht gewohnt, körperlich zu arbeiten und musste mich nun umstellen.

Wenn Schwestern ihre Eierschalen abwerfen und ins Leben treten, brauchen sie auch regelmässig eine Wegzehrung, um ihren psychischen Stress im Verlieben und Trennen zu bewältigen – um mal die Extreme zu nennen.

Es gibt aber auch andere Püffe und Blechschaden an der Psyche. Neckereien, Beleidigungen, Überheblichkeiten, Ent-Täuschungen, Diskriminierung… All das braucht wieder Aufbaustoffe und Energiezufuhr, die allein aus Ficks nicht generiert werden können.

Leider gibt es auch viele Gays, die sind so zusammengestaucht worden im Laufe ihres Lebens, dass sie aussehen wie zerdrückte Cola-Dosen. Und es gibt auch viele Gays, die haben ihr Leben so ausgelebt, dass sie ziemlich ähnlich in Erscheinung treten! 😉

Wegzehrung ist eine Verschnaufpause. Für Raucher bedeutet das Inhalation von Nikotin, um wieder auf einen „Normal-Level“ zu kommen. Oder kleine Stopps der Filmrolle, um sich zu vergewissern, in welchem Film wir denn leben! 😉

Früher hatte ein Gott die Übersicht darüber, was auf der Erde so alles passiert und wo ihm die Menschen aus dem Ruder liefen. Heute hat das Internet seine Rolle übernommen und ist nun allgegenwärtig. Da hocken sie dann alle vor ihrem PC, oder tragen ihre Apps mit sich herum. Der Blick auf die emails ist sogar wichtiger geworden als der Blick zur Türe, wenn jemand hereinkommt…

Wie schön war es vergangene Woche, mit Vertrauten und Fremden über Kulinarisches zu reden, über Sprache und Kultur im alemannischen Raum. Oder an einem anderen Tag über Erfahrungen mit Strichern in Basel und über Scheisshäuser im fernen Osten. Über die Vergangenheit einer heterosexuellen Familie und die Zukunft mit einem Mann…

Dies alles und noch vielmehr kann mann erleben, wenn man immer mal wieder die reale Szene besucht und diese Atmosphäre spüren kann. Dabei sollte man an der Bar Platz nehmen und nicht sich in einer Ecke verkriechen. Schön, wenn es nur leise Musik gibt – oder gar keine, denn dann machen wir selbst die Stimmung, in der wir uns wohlfühlen. Es wäre für Viele wichtig, wieder mal so „Stallgeruch“ holen zu gehen, bevor sie realisieren, dass sie nach langer, langer Zeit gar niemanden mehr kennen. Zum Beispiel, weil sie 40 Jahre mit einem Partner – ausschliesslich – verbracht haben.

Also „en guete bim läse!“ Und: S Blatt ligt jewils au uff im „elletlui“! 😉

Peter Thommen

Zu dem Thema empfehle ich das Buch: Schwule über vierzig, von Oliver Witt, tredition Verlag 2010, ca. CHF 20.-

Über admin

*1950, Buchhändler, Schwulenaktivist, ARCADOS Archiv für schwule Studien
Dieser Beitrag wurde unter Gedanken in die Zeit abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.