rütli und „weltschwulentum“

Gedanken zur „Nation“ und Spekulationen über die Homosexualität als Weltanschauung

Wahrscheinlich dachten die Eidgenossen auf der Rütliwiese nicht an Homosexuelle oder Lesben, als sie den Bund vor ihrem Gott schworen. Wohl aber war vielleicht der eine oder andere Feudalherr offen oder heimlich als „Penetrant“ gehandelt worden, von denen sie sich zu befreien trachteten. Ueberhaupt hatten die gemeinen Leute keine Zeit für Männersex nach „italienischer“ oder „griechischer“ Art. Einige „taten“ es bestimmt und mann redete damals einfach nicht darüber, wie heute bei der „türkischen“ oder „marokkanischen“ Art.

Die Weltanschauung – also die Art, wie mann die Welt an- und be-schaute – war bestimmt von Hierarchie, von Angst und von Unwissenheit. Die Kirche hatte das Informationsmonopol und lehrte alle Welt aus der Sicht ihrer Männer. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte…

Seit biblischen Zeiten durfte ein Mann nicht bei einem Knaben liegen wie bei einem Weibe. (Ueber die Zeiten vor der Bibel wissen wir höchstens etwas aus dem Gilgamesch-Epos, oder aus Keramikstücken vergangener Jahrtausende.) Aber wir wissen, dass anfangs des 2. Jahrtausends unserer Zeitrechnung schon 14jährige Knaben in den Krieg ziehen konnten und zu Mord und Totschlag gegenüber andern Männern durchaus fähig waren. Tausende von Kindersoldaten in Afrika und Asien sind auch dazu „missbraucht“ worden! Was weniger verfolgt wird als die sexuellen Kontakte dieses Alters – getreu der heterosexuellen Sexualanschauung: Lieber ein Kalter Krieger“ als ein warmer Bruder…

Sie konnten in ein Kloster eintreten, den Frauen und der Welt entsagen, oder sogar schon auf irgendeinem Fürstenthrone sitzen und über Leben und Tod entscheiden. Ich vermute sehr, dass Kinder (Knaben) damals mehr wussten über Sexualität, Leben und Tod, als es die Mehrheit von ihnen heute nur notgedrungen zu wissen bekommt.

Religionen, Gesetzesepochen, Königreiche und Familien hatten als Teil ihrer Weltanschauung die Vorstellung, dass Sex zwischen Männern sündig, krankhaft, gottlos und todeswürdig war. (Nur wenige kümmerten sich überhaupt um den Sex zwischen Frauen.) Deren Sexualempfindungsfähigkeit war bis ins 20. Jh. hinein nicht evident! Das erzählen uns Gesetzesparagraphen, Gerichtsprotokolle, Sagen und Kunstwerke. Es gibt auch einige Gegenbeispiele.

Die Kunst, ein richtiger Mann zu werden, hängt auch heute noch in erster Linie davon ab, zu verhindern, was unmännlich ist und erst in zweiter Linie davon, was einen Mann menschlich macht. Andere Männer sind für ihn Konkurrenten, beim arbeiten oder beim ficken. Frauen sind Liebespartner und in der Lage, ihre Ehemänner zu reproduzieren (und unserem Militärdepartement einen Soldaten zu liefern! Darum war Homosexualität auch bis 1992 in der Armee verboten.) Dies ist unzweifelhaft eine Weltanschauung, betrifft es doch etwas über die Hälfte der Menschheit.

Männer, die mit Männern Sex haben, sehen das etwas anders. Folglich haben sie auch eine etwas andere Weltanschauung. Sie lassen sich in Liebesverhältnisse mit Männern ein und sind doch keine Frauen, weil sie keine Kinder bekommen können. Und richtige Frauen sind sowieso nur solche, die ein Kind bekommen haben…

Oekonomische und kulturelle Veränderungen, sowie die Friedenszeit nach zwei Weltkriegen, haben den Homosexuellen in den letzten hundert Jahren Chancen geboten, sich im Welttheater um Rollen zu bemühen. Aber erst die Homosexuellenbewegung der Neuzeit gab uns Möglichkeiten der Sichtbarkeit! Wir haben uns heute über die Homosexuellen hinaus bis zu den Schwulen entwickelt.

Schwule tun nicht nur etwas, was Homosexuelle auch tun, nämlich Sex haben mit Männern und sich mit heterosexuellen Männern herumschlagen. Schwule denken auch darüber nach, was sie tun, wie sie es tun (zB. wegen AIDS) und sie fragen sich, im Gegensatz zu den Heten, warum sie es denn tun! Und hier ist der Beginn der schwulen Weltanschauung zu suchen und in Ansätzen auch zu finden.

Ein Teil versucht, das von den Heten erlernte Zusammenleben nachzuleben und zu beweisen, dass sie es auch wie sie können. Es steht in der bewährten Tradition der Homosexuellen, die seit Jahrhunderten in die Frauenrolle schlüpften, um heterosexuelle Männer anzumachen und zum richtigen Sex zu kommen. Weil es in der fixen Rollenteilung einfach nicht anders zu machen war. Es ist für viele auch heute nicht anders zu machen, als sich mit dem vorhandenen Rollenangebot zu beschäftigen und damit zu experimentieren. Sollen sie es tun!

Ein anderer Teil knüpft an die Traditionen der gleichgeschlechtlichen Bruderschaften an, die sich homosozial organisierten und in kirchlichen Institutionen eine gleichgeschlechtliche Welt erbauten (um dem späteren Heil im Himmel näher zu sein?). In dieser Strömung finden wir auch die heute typischen SM- und Leder-Beziehungen. Sollen sie es tun!

Wieder ein anderer Teil sucht neue Wege aus der Erkenntnis heraus, dass die sozialen Lebensmöglichkeiten in dieser Welt schon immer vielfältig und nicht hetero-einfältig gewesen sind! Sie rücken ab von lebenslangen, monogamen und sexual-treuen Beziehungen, sowie vom weiter vererben von Vermögen.

Sie stellen sich auf einen Wechsel von Partnern, Lebensumständen, sozialen Gruppen, „Familien“, oder Lebensgemeinschaften ein. Sie versuchen, statt an der Nichterfüllung traditioneller Vorstellungen zu leiden, die neuen Lebensbedingungen bewusster zu organisieren und in ihre Leben zu integrieren. Sollen sie es tun?

Ich setze hier bewusst ein Fragezeichen, weil spätestens hier eine gesellschaftliche Dimension sichtbar wird, die in eine ungewisse Zukunft verweist! Ich habe den Eindruck, dass in der schwulen Minderheit schon lange brodelt, was in der heterosexuellen Mehrheit erst zu blubbern angefangen hat.

Wir müssen damit leben, dass es Homosexuelle gibt und Schwule und die sind fast genausowenig unter einen Hut zu bringen, wie die Schweizer, die Juden, „die Neger“, oder die Menschen überhaupt. Und solange es noch kein Informationsmonopol gibt, können wir uns unter den Völkern und auf den Kontinenten umschauen und voneinander lernen. Das heisst aber, dass viele von uns präsent sein müssen in der Oeffentlichkeit und teilhaben sollten am Dialog in den Medien. Sie müssen, wie die Heten auch, oft auf bürgerliche Werte und „Familie“ verzichten und sich damit abfinden. Es gibt ideelle Werte zu erschaffen und eine Familie, die nicht auf Zweier- oder Blutsbeziehungen aufbaut!

Und die monogamen Homosexuellen und Schwulen müssen sich damit abfinden, wenn sie in eine Beziehung investiert haben, dass sie ihnen nicht das erhoffte Glück oder zusätzliches Vermögen gebracht hat. Sie können nach einer Schwulenehe nicht wieder von vorne anfangen. Genauso wie die Homosexuellen, die eine heterosexuelle Ehe geführt haben. Die gay community aber träumt nicht wie die Heten von einem Mehrheitsanspruch, sie ist nicht irre damit beschäftigt, sich zahllos zu vermehren. Die Schwulen könnten aber irre daran werden, dass ihre Minderheit eben auch nur aus homosexuellen Minderheiten, wie Pädos, „Heiratos“, „Treuelos“, SMs, Leder- und Fummelschwestern, sowie Bisexuellen, Ambisexuellen und Stereosexuellen besteht.

Wir sollten uns wirklich die Worte unserer Regierung zu Herzen nehmen:

„Die Schweiz definiert sich nicht wie andere Nationen durch eine gemeinsame Abstammung, Sprache, Religion und Kultur. Ihre Grundlage liegt vielmehr in den gemeinsamen Auffassungen von Rechten, Pflichten und Werten, sowie im Willen zur Verbundenheit in der Vielfalt.“

(Der Bundesrat zur Abstimmung über den 1.August-Feiertag, 1993)

Die gay community definiert sich nicht wie die heterosexuelle Familie durch eine gemeinsame Abstammung, Sprache, Religion und Kultur…

Peter Thommen

(Thommens Senf-Wochenblatt vom 26. Juli 1996, 5. Jg. Nr. 29/30) Text kursiv = Zusatz von 2010!

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*1950, Buchhändler, Schwulenaktivist, ARCADOS Archiv für schwule Studien
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